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„Kupierverzicht verdreifacht das Risiko für Schwanzbeißen“
Veröffentlicht am:
26.04.2023 17:15:28
Kategorie :
News
, Schweine
26.04.2023 - Schweinehaltungsexpertin Mirjam Lechner erklärt, wie Landwirte gesunde Ringelschwänze erreichen können. Bei der Mehrheit der konventionell gehaltenen Schweine wird der Schwanz gekürzt, damit sich die Tiere nicht gegenseitig verletzen.
Mit dem Aktionsplan Kupierverzicht fordert das BMEL seit mehreren Jahren den schrittweisen Ausstieg. Die Schweinehaltungsexpertin Mirjam Lechner zeigt Herausforderungen und Möglichkeiten auf.
agrarzeitung: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Tiergesundheit und einem intakten Ringelschwanz?
Mirjam Lechner: Aktuelle Studien zeigen, dass ursächliche Nekrosen aus dem Entzündungs- und Nekrosesyndrom in Zusammenhang mit der Darmgesundheit und damit einem stabilen Mikrobiom stehen. Entzündungsprozesse wirken zusätzlich als Brandbeschleuniger für Verhaltensstörungen, da sie neben Leiden für das Tier auch Stoffwechselprozesse verschieben. Hier zeigt sich wieder, dass physische Gesundheit die Basis für psychische Gesundheit darstellt. Große Infektionseinbrüche wie Actinobacillose oder Influenza sind oft Mitverursacher von Schwanzbeißgeschehen.
agrarzeitung: Auf welche Tiersignale sollten Landwirte beachten?
Mirjam Lechner: Das Wichtigste ist das Kombinieren von Verhalten und Symptomen. Dazu muss man das Normalverhalten wie beispielsweise Aktivitätszeichen und deren Abweichungen genau erkennen. Das Risiko für Schwanzbeißen steigt mit dem Kupierverzicht um den Faktor drei, daher ist eine achtsame Tierbetreuung mit rechtzeitigem Eingreifen notwendig. Zum Beispiel wird Fieber als Warnzeichen des Körpers genauso häufig übersehen wie Überhitzung. Mykotoxinbelastung kann mit Immunsupression beginnen und sich bis zu massiven Nekrosen und Beißen steigern. Einige Signale müssen auch hinterfragt werden: Trockene Buchten mit „sauberen“ Schweinen sehen wünschenswert aus, können aber ein Warnzeichen für Wassermangel und eingeschränktes Urinieren sein. Auch soll das intakte Haarkleid glänzen, nicht wie man früher dachte die Haut der Schweine.
agrarzeitung: Was sind die größten Warnsignale?
Mirjam Lechner: Leere Bäuche für Fressunlust, faltige Haut für Wassermangel, struppiges Haarkleid, Fieber und das Auseinanderwachsen mögen von Ferkeln mit kupierten Schwänzen als „Wachstumsknick“ überwunden werden. Bei Schweinen mit Ringelschwanz werden systemische Stoffwechselstörungen als Spitzennekrosen sichtbar, obwohl ihnen oft Fieberkurven als Entzündungssignal vorweggehen. Während die Farbe und Konsistenz des Kots kontrolliert werden, wird hingegen häufig die Abwesenheit von Pinkelflecken als Zeichen einer guten Wasseraufnahme übersehen. Dies verschärft den Effekt einer Mykotoxinbelastung, den man am Krankheitsbild Hyperöstrogenismus, an den Zitzen, einer Vulvaschwellung und Nekrosen sehen kann. Insbesondere in der Aufzucht sind Ferkel oft überhitzt. Dies löst wiederum Endotoxinwellen im Tier aus, welche die Darmbarriere massiv schädigen.
agrarzeitung: Welchen Einfluss hat das Stallklima?
Mirjam Lechner: Da wenige Ställe Mehrklimazonen für individuelles Wahlverhalten aufweisen, können Schweine Schadgasen, Zugluft oder Hitzestress nicht ausweichen. Gepaart mit Überbelegung kann dies die Schweine überfordern und eine Frustaggression auslösen. Schwanzbeißen ist die Folge.
agrarzeitung: Welche Rolle spielt die Futterqualität?
Mirjam Lechner: 70 Prozent des Immunsystems spielen sich im Darm ab, eine Mikrobiomvielfalt ist sozusagen das Rückgrat der Schweinegesundheit. Eine gute Futterstruktur wirkt Magengeschwüren entgegen und eine gute Rohfaserversorgung sorgt für ein stabiles Mikrobiom. Auf der anderen Seite ruinieren Futterhygieneprobleme wie Hefen und Mykotoxine jede gute Ration oder Raufuttergabe. Neue Daten zeigen auch, dass gesunde Atemwege nur mit einem guten Mikrobiom einhergehen. Schlachthofbefunde wie Magengeschwüre oder Auffälligkeiten an der Lunge sind oft auf Mykotoxinbelastung zurückzuführen.
„Schweine senden uns Signale – wir müssen sie verstehen und handeln!“
Schweinehaltungsexpertin Mirjam Lechner
agrarzeitung: Welche Maßnahmen helfen den Schweinen?
Mirjam Lechner: Ringelschwanzbetrieben helfen folgende Maßnahmen:
Bereits die Muttersau sollte Saufkomfort mit taillierten Beckentränken, hygienisiertem Wasser sowie Raufutter erhalten, da hier die In-Utero-Programmierung der Ferkel beginnt.
Das Stallklima sollte bezüglich Zugluft und Schadgasen überprüft werden, im Sommer ist Sonnenschutz wichtig.
Der Liegebereich sollte ein Kleinklima ohne Zugluft aufweisen, gleichzeitig muss die Raumtemperatur gegen Überhitzungen und Stoffwechselentgleisungen abgesenkt werden können.
Die Fressplätze und die Futterstruktur sollten die Schweinegesundheit begünstigen. Dabei zeigen Rationen mit hohen Gerstenanteil und begrenztem Weizenanteil Vorteile.
Raufutter kann auch als Rohfasermischung vorgelegt werden. Bei jungen Ferkeln lohnt es sich Ferkelmüsli einzusetzen.
Beim Ein- und Auslagern des Getreides bezahlt sich eine Reinigung von selbst. Viele Ringelschwanzbetriebe haben eine Reinigungseinheit nachgerüstet und werden mit höherer Futtereffizienz belohnt.
In Wühltrögen sollten Rohfasermischungen mit Gesteinserden angeboten werden. Auch der Einsatz von Toxinbindern hat sich bewährt.
Letztendlich sind allerdings das Wissen, die Motivation sowie die Veränderungsbereitschaft bei der Tierbetreuung entscheidend. Tiersignale müssen rechtzeitig erkannt werden.
agrarzeitung: Was raten Sie Landwirten, die auf das Schwanzkupieren verzichten wollen?
Mirjam Lechner: Sie sollen sich einen Betrieb mit erfolgreichem Kupierverzicht anschauen und engen Austausch mit ihrer Tierarztpraxis halten. Testläufe sollten nur nach gemeinsamem Betriebsdurchgang erfolgen. Es braucht nicht nur ein Verbesserungskonzept, sondern auch rechtssichere Ansätze. Dazu zählen Notfallmaßnahmen zum Ablenken bei Schwanzbeißen und eine geeignete Behandlung betroffener Tiere. Grundsätzlich muss der Bestand inklusive der Testferkel gesund genug sein. Würfe aus guten Sauen sollten in der Aufzucht auf einen verbesserten Standard mit Saufkomfort und Raufutter treffen, also keine Jungsauen, kein Mastitis-Metritis-Agalaktie, keine vorherige Antibiotikabehandlung. Dabei ist reine Leistung kein Gesundheitszeichen, denn oft haben die bestentwickelten Ferkel die meisten Nekrosen. Bestehende Ohrnekrosen und Beißprobleme müssen beseitigt sein, bevor Testgruppen mit Langschwanz gehalten werden.
agrarzeitung: Welchen Einfluss haben die Genetik und die Muttersau auf das Schwanzbeißverhalten der Ferkel?
Mirjam Lechner: Die Gesundheit der Ferkel wird schon vom Platz in der Gebärmutter, der Konkurrenz um die Zitzen und durch die Menge des aufgenommenen Kolostrums bestimmt. Entzündungs- und verhaltensstabile, soziale Sauen, im Idealfall schon selbst mit einem intakten Ringelschwanz aufgezogen, sind natürlich von Vorteil. Je mehr Entzündungen und Nekrosen (SINS) Ferkel kurz nach der Geburt zeigen, desto höher ist das Risiko im späteren Leben auch Läsionen zu erleiden. Die Saugferkel sind ein Spiegelbild von der Gesundheit der Muttersau – der Ringelschwanz beginnt also schon mit der Genetik. Auch bei den Vaterlinien zeigen sich Unterschiede: Hier laufen mehrere Forschungsprojekte wie Geno-SINS I & II durch Prof. Gerald Reiner (Gießen), dem Projekt EIP Agri Gen-Ethisch in Baden-Württemberg und dem Projekt Heri-SINS in Bayern.
agrarzeitung: Welche technischen Parameter können Hinweise geben?
Mirjam Lechner: Aus Selbstschutz fressen und trinken Schweine bei Erkrankungen weniger. Daher muss die Wasseraufnahme insbesondere direkt nach dem Absetzen gemessen, statt geschätzt werden. Thermografie kann das Überwachen von Überhitzung und Fieber unterstützen, aber sie kann die Sinne des Tierhalters nicht ersetzen. Es ist ein Unterschied ob Schweine in der Bucht neugierig herbeikommen oder aggressiv am Overall des Landwirts herumreißen. Neue Hustensensoren können eine Infektionsproblematik schon erkennen, bevor es für Tierhalter ersichtlich wird.
agrarzeitung: Hat das Absetzmanagement eine Auswirkung?
Mirjam Lechner: Die Umstellung der gesamten Lebensumgebung muss für die überforderten Ferkel mit Maßnahmen gelindert werden.
m Saugferkel- wie auch im Aufzuchtbereich sollten identische Beckentränken mit hygienisiertem Wasser bereitstehen. Ebenso wichtig sind genügend Fressplätze, die durch zusätzliche Tröge oder Bodenanfütterbretter erweitert werden können.
Das Futterkonzept sollte dem Verdauungssystem angepasst werden.
Ferkel trauen sich nicht an neue Fütterungssysteme wie Glockenautomaten heran oder verstehen diese nicht schnell genug.
Auch eine mehrmals tägliche Kontrolle mit Auftreiben der Ferkel ist wichtig.
Der „Zwei-Wochen-Effekt“ mit dem Risiko für Schwanz- und Ohrnekrosen wird oft in den ersten 48 Stunden nach dem Absetzen gelegt.
Insbesondere die Wasseraufnahme wird überschätzt. Dabei brauchen Ferkel bis zu drei Wochen, um das Saugen an einer Nippeltränke zu lernen.
Separat angebotenes Raufutter mit Zeolith-Zulage puffert Verdauungsstörungen ab und hilft Ammoniak und Endotoxine zu binden. Zusätzlich dient es als Beschäftigungsmaterial.
agrarzeitung: Wo erhalten interessierte Landwirte Unterstützung?
Mirjam Lechner: Die Smartphone-App FitForPigs enthält über 1 600 Fotos, Videos und Infos. Die Themen reichen von Warnsignalen bis hin zu Erste-Hilfe-Vorschlägen. Die Website www.ringelschwanz.info zeigt eine große Wissenssammlung zum Thema Kupierverzicht. Dazu zählen Angebote zum Vernetzen, Kontakte zu Beratern, Weiterbildung und Leitfäden. Das Projekt Fokus Tierwohl bietet Schulungsangebote an: www.fokus-tierwohl.de.