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Unehrenhaft, aber systemrelevant: Abdecker in Bayern
Veröffentlicht am:
26.05.2023 09:02:57
Kategorie :
Allgemein
, News
26.05.2023 - Abdecker waren früher Außenseiter. Mit Menschen, die Tierkadaver beseitigen, wollte man nichts zu tun haben. Wir begleiten eine Familienforscherin, deren Vorfahren zum Teil Abdecker waren – und treffen auf eine Tierbestatterin von heute.
So ein Abdecker war kein feinfühliger Mensch, denn er ist ja nur beschäftigt gewesen mit Aas, mit Kadavern, teilweise musste er in den Städten auch die Hingerichteten runterschneiden, vergraben usw. Also feinfühlig in dem Sinn war er nicht. Dann las ich: Abdecker ist ein Beruf, der gefallene und tote Tiere, also das Aas wegräumt. Und in der Mundart wird er auch Schinder genannt. Und das war mir ein Begriff. Weil Schinder ist ja eigentlich ein Schimpfname." - Christine Obermeier, Familienforscherin.
Wasenmeister, Abdecker, Schinder – viele Begriffe, ein Beruf
Das Wort Schinder mit seinen regionalen Abwandlungen wie Schelmen-, Greiben-, Kaiben-, Kogen- oder Katzenschinder wurde im Volksmund häufig, im amtlichen Sprachgebrauch eher selten verwendet. Es war früher ein abwertender Begriff. Das Wort Abdecker wurde zunächst selten, später häufiger gebraucht. In Preußen wurde es um 1830 die amtliche Bezeichnung für den Schinder, in Süd- und Westdeutschland ist es nie üblich gewesen. Hauptberuflich befasste sich ein Wasenmeister mit der Entsorgung und Weiterverarbeitung von Tierkadavern. Und da sei ihr der Brockhaus aus der Hand gefallen, sagt Christine Obermeier. So erschüttert sei sie gewesen. Ihre Vorfahren waren Schinder. Sie waren also "Banditen, Gauner, Räuber, Mörder und ein von der Justiz verfolgtes Gesindel", glaubt Christine Obermeier zuerst. Mittlerweile besitzt sie in ihrem Haus zwei deckenhohe Regale voll mit Büchern zum Thema Schinder (Abdecker).
Alles an einem Tierkadaver wurde verwertet. Fast alles.
In der frühen Neuzeit wollte man nichts wegschmeißen. Nahezu alles fand eine spezielle Verwendung - Zero Waste würde man heute sagen. Wenn ein Tier starb, war das nicht anders. Die Haut wurde zu Leder, das Fell zu Pelz, die Pferdehaare wurden für Violinbögen genutzt. Das Fleisch wurde gekocht und getrocknet. Das Fett, auch Unschlitt genannt, wurde beim Kochvorgang abgeschöpft und als Schmalz für Salben benutzt oder an Gerber, Seifensieder oder Kerzenzieher verkauft.
Die übrig gebliebene Brühe, die bestialisch stank, ging als Düngemittel an die Bauern. Eingeweide und sonstige Austritte aus dem toten Tier, die waren dann aber Abfall. Sie wurden in einer Grube vergraben. Diese Grube nannte man Schindanger, Schindlaich, Schindzwinger, Schinderkuhle, Aaskuhle, Aeserplatz, Fillerkamp, Wasenplatz oder Wasen.
Abdeckerein – weit draußen auf dem Land
Meist waren die Abdeckereien - die Orte, an denen die Abdecker gearbeitet und gelebt haben - außerhalb der Stadt. Weit draußen auf dem Land.
"Eine Abdeckerei ist wie ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb. Mit etwas Abstand vom Hautgebäude ist dann eine Hütte und in der Hütte kann man sich vorstellen, dass an den Balken große Haken hängen, die Tiere mussten ja aufgezogen werden. Dann hat in der Regel jede Hütte einen großen Ofen bzw. eine Ofenstelle mit einem riesen Kupferkessel, weil die Fleischteile ausgekocht wurden. Damit man das Schmalz und das Öl gewinnen konnte. Und ansonsten ist es etwas abseits gewesen, weil das ja einen fürchterlichen Gestank hatte." Christine Obermeier, Familienforscherin
"Unehrliche" Menschen = Menschen, die "ohne Ehre" waren
Mit dem Wasenmeister wollte man in der Regel nichts zu tun haben, so Obermeier. Auf der anderen Seite brauchte man sie aber. Um Seuchen zu verhindern. Aber man liebte sie eben nicht, gesellschaftlich seien sie ausgeschlossen gewesen, so Obermeier. Man nannte sie "unehrlich". Damit meinte man Menschen, die "ohne Ehre" leben mussten. Dazu zählten unter anderem auch die Scharfrichter. Niemand wollte diese Menschen berühren. Denn damals habe man gedacht, die Unehrlichkeit ist höchstansteckend, so Obermeier.
Die Geschichte der Tierkörperbeseitigung
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die Zahl der staatlich ausgebildeten Tierärzte sehr gering. Zur Behandlung ihrer kranken Tiere wandten sich Besitzerinnen und Besitzer ganz selbstverständlich an die örtlichen Wasenmeister. In Bayern war es Scharfrichtern und Abdeckern bis 1756 erlaubt, sogar "Kuren" an Menschen vorzunehmen.
Nach und nach wurden den Abdeckern striktere Anordnungen vom Heiligen Römischen Reich auferlegt. 1788 wurden offiziell auch die sogenannten Viehkuren in Bayern untersagt. Die Heilung von Mensch und Tier wurde verboten.
Vor dem ersten Weltkrieg waren im ganzen Deutschen Reich nur 63 Abdeckereien mit Maschinen ausgestattet. Doch dann wurde der Beruf technisiert und industrialisiert. Mit dem Gesetz für Tierkörperbeseitigung von 1939 verloren die 186 privaten Abdeckereien dann alle Privilegien. Von da an gab es ein über das Reich verteiltes Netz an Tierkörperbeseitigungsanstalten mit modernen Maschinen für die Beseitigung der Tierleichen.
Heute gibt es sechs Tierkörperbeseitigungsanlagen in Bayern
In Bayern sind es heute sechs Anlagen, die die Tierleichen verwerten und beseitigen. Tierkörper und Tierische Nebenprodukte werden dort in Mulden entladen und dem Sterilisationsprozess zugeführt. Die Geruchsbelästigung lässt sich selbst in einem hygienisch modernen Betrieb nicht vermeiden. Im Verarbeitungsbetrieb Tierischer Nebenprodukte Gunzenhausen werden im Betriebsgebäude mit einer Abluftanlage pro Stunde 55.000 Kubikmeter Luft abgesaugt und über einen Biofilter abgeführt.
In Deutschland fallen jährlich etwa drei Millionen Tonnen tierische Nebenprodukte an. Die "Rohware" wird in drei Kategorien aufgeteilt. Kategorie 1: Tiere, die von Tierseuchen betroffen waren. Kategorie 2: Gefallene Tiere, die nicht durch Schlachtung gestorben sind. Und Kategorie 3: Tierische Nebenprodukte aus der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung. Der Anteil aus Schlachtbetrieben an der Gesamtmenge beträgt 2,6 Millionen Tonnen. Rund 450.000 Tonnen sind gefallene Tiere aus der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung. Endprodukte sind Tiermehl und Tierfett.
Neue Recherchen zu Abdeckerfamilien aus Regensburg
2021 bringt Familienforscherin Christine Obermeier ihr Buch "Die Eisenmänner und Eisenhämmer - eine Schinder-Familie in Böhmen mit bayerischen Wurzeln" im Eigenverlag heraus. Es erscheinen Artikel zu ihr und ihrer Forschung in Zeitungen wie der Süddeutschen und Mittelbayerischen. Eigentlich war sie fertig mit ihren Recherchen zu Wasenmeistern, doch dann stand eines Tages ein älterer Herr aus Regensburg vor ihrer Tür, der ihr sagte, er sei auf der Abdeckerei in Regensburg aufgewachsen.
"Meine erste Frage war: Sind Sie ein Schinderbub? Na, hat er gsagt. bin keiner. Meine Familie hat da bloß gwohnt im ersten Stock. Wir waren da nur eingemietet. Wir haben mit der Schinderei nichts zu tun gehabt, aber ich bin da aufgewachsen. Wir waren da in Miete. Und das war der Orchl. Und da sag ich: Wer war das? Ja wissen Sie, alle Leut haben bloß Orchl gsagt, der hat Eichinger geheißen." Christine Obermeier, Familienforscherin
Ihr Besucher erzählt ihr von der Abdeckerei, seiner Kindheit und verspricht ihr, mit Fotos und mehr Informationen bald wiederzukommen. Daraufhin sammelt sie alle Geburten- und Sterbedaten von Abdeckerfamilien in Regensburg. Fast alle. Nur einen Eichinger findet sie nicht. Und da habe sie Blut geleckt. Ihr erster Weg führt sie ins Stadtarchiv Regensburg. Dort findet sie die Namen der Familien, die im Haus Unterislinger Weg Nr. 40 gelebt haben. Also dort, wo einst die letzte Abdeckerei stand. Diese "Familienbögen" reichen bis 1805-1810 zurück. Von da an geht sie rückwärts und forscht, wo der Wasenmeister von Regensburg im 18. und 17. Jahrhundert gelebt hat.
Ende März dieses Jahres sucht sie das Stadtarchiv noch einmal auf. Um Lücken zu schließen, wie sie sagt. Speziell ist sie auf der Suche nach dem Kaufvertrag für das Wohnhaus eines Wasenmeisters. Sie will wissen: Wer hat ihm sein Haus abgekauft? Was für manch einen eher langweilig klingt, ist für die 71-jährige eines der letzten, entscheidenden Puzzleteile.
Sie ist die einzige Besucherin, die sich für heute angemeldet und Dokumente aus dem Archiv im Vorfeld bestellt hat. Vieles ist bereits online, wird nach und nach digitalisiert. Das, was noch nicht digitalisiert wurde, wird für Besucherinnen und Besucher in den Lesesaal geholt. Außer Christine Obermeier sind noch die Archivmitarbeiterin und eine Praktikantin im Raum. Nach einiger Zeit kommt auch Abteilungsleiter Lorenz Baibl die Stammgästin besuchen. Er unterhält sich mit Christine Obermeier über ihre Fundstücke und sie tauschen sich über bekannte Henkergeschichten aus.
Scharfrichter und Abdecker – in Bayern oft ein- und dieselbe Person
Das Besondere in Regensburg, und überhaupt in Bayern, war, dass der Scharfrichter und der Abdecker eine Personalunion gebildet haben. Das bedeutet, dass beide zusammenarbeiten mussten, zusammen gewohnt haben oder oft auch ein- und dieselbe Person waren.
"Das Henkerhandwerk und die Abdeckerei gehört einfach zusammen, weil das sozusagen beides Bereiche waren, die als unrein, also nicht nur hygienisch, sondern auch rituell, unrein galten. Mit dem Henker wollte man in dem Sinne nichts zu tun haben. D.h. der musste für die „Drecksarbeit“, die sonst keiner machen wollte, die aber ganz ganz wichtig war, sowohl vom Strafrecht her, als auch aus dem hygienischen Standpunkt. Auch um die Städte hygienisch sauber zu halten, gerade vor dem Hintergrund der großen Epidemien. In Regensburg auch. Pest, Seuchen, also war das eine ganz ganz wichtige Aufgabe."
Dann findet Christine Obermeier, was sie sucht: den Kaufvertrag. Damit schließt sich ihre Lücke. Sie weiß nun, wann und an wen der Scharfrichter und Wasenmeister Fuchs sein Anwesen verkauft hat: an seinen Sohn. Somit vervollständigt sie ihre Zeitleiste und kann nachverfolgen, welcher Abdecker wann und wo gelebt hat. Angefangen mit dem ersten namentlich genannten Leonhard Hammerschmidt 1632 bis zum letzten Wasenmeister Franz Eichinger 1943… .